Borderline die andere Art zu fühlen

Es gibt Bücher, bei denen merkt man schon bei den ersten paar Sätzen („Bei der Recherche im Internet zum Thema Borderline und Beziehung musste ich mit Entsetzen feststellen, wie viele Artikel, Ratgeber und Chat-Rooms die Menschen, die mit dieser Diagnose leben müssen, diskriminieren und völlig realitätsfremd darstellen …. Ratschläge wie Finger weg, bloß nicht auf solche Menschen einlassen oder gar verlassen Sie einen Borderliner nie ohne Polizeischutz, haben mich motiviert, Die Erfahrungen einerseits und den wissenschaftlichen Hintergrund andererseits in einem Buch zusammenzufassen.“), dass man sie mögen wird – und auch sofort weiterempfehlen will. „Borderline – die andere Art zu fühlen“ von Alice und Martina Sendera ist so ein Buch (Springer Wien NewYork).

So recht eigentlich schon des ‚wertfreien‘ Titels wegen. Und auch des schön blühenden Kaktus auf dem Umschlag wegen: „Der Kaktus symbolisiert das charakteristische Verhalten von Abwehrbereitschaft und Angst durch andere verletzt und enttäuscht zu werden, die Blüte die Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit, Schönheit und Liebe, aber auch die Anziehungskraft, die Borderline-Menschen oft auf andere ausüben.“ Wie Sonja K. Sutor so treffend schreibt: „… vielleicht können Sie dem Kaktus zeigen, dass er auf seine Stacheln verzichten kann, wenn Sie bei ihm sind. Vielleicht können Sie selbst lernen, die Stacheln schon im Vorhinein zu sehen und aufzupassen, sich nicht zu verletzen …“.

Doch was ist eigentlich Borderline? In erster Linie eine Emotionsregulations-Störung. Borderliner leiden unter extremen Spannungsgefühlen; ihre emotionale Sensitivität ist angeboren, doch trägt das soziale Umfeld entscheidend zur Borderline-Störung bei.

Verschiedene Konzepte zur Borderline-Pathologie werden in diesem Werk vorgestellt. Besonders eingeleuchtet hat mir das Modell von Marsha Linehan: Borderliner haben häufig als Kinder traumatische Erfahrungen gemacht, auf ihre Gefühlsäusserungen ist nicht angemessen reagiert worden, weswegen diese Kinder nicht gelernt haben, eigene Erfahrungen und Gefühle adäquat zuzuordnen und keine effektive Emotionsregulationsfähigkeit entwickeln. Das zeigt sich etwa in unangemessenen, starken Wutausbrüchen, Impulsivität, affektiver Instabilität, Hochstress, Selbstverletzung oder einem „Muster von instabilen und intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen, das sich durch einen Wechsel zwischen extremer Idealisierung und Abwertung auszeichnet.“

Als Borderline-Grundgefühle gelten Wut (Otto Kernberg), Scham und Schuld (Marsha Linehan), die Borderline-Angst (Sven-Olaf Hoffmann) und die Leere. Diese Gefühle sind nicht nur rascher und intensiver vorhanden als bei Normalos, sie entziehen sich – im Hochstress und bei großer Nähe – auch der kognitiven Kontrolle. „Viele Übungen aus dem Skills-Training zielen darauf ab, neue Wege zu trainieren, um diesem Kreislauf zu entkommen. Das heißt auch im neurobiologischen Sinn, dass das Bahnen neuer Wege möglich ist, die bereits erfolgten neuronalen Bahnungen und Inhalte jedoch löschungsresistent sind …“.

Ist Borderline heilbar? Nach Auffassung von Alice und Martina Sendera sind „die typischen Verhaltensweisen und Reaktionen therapierbar und veränderbar“, doch wird „eine gewisse emotionale Vulnerabilität“ wohl lebenslang bestehen bleiben. Steuern können Borderlines „durch das Erlernen von bewertungsfreiem Wahrnehmen, Beschreiben und Erkennen von Primärgefühlen und der Verinnerlichung des Leitsatzes ‚Ich bin nicht mein Gefühl‘.“ Ich finde diesen Leitsatz wunderbar hilfreich – und nicht nur für Borderliner – , doch wie bewertungsfreies Wahrnehmen (ein derart hochgestecktes Ziel lädt geradezu zum Scheitern ein) gehen soll, ist mir schleierhaft. So recht eigentlich bewertet der Mensch doch immer, bewusst und unbewusst, und ich kann daran auch gar nichts Problematisches erkennen – sofern man dieser Wertung nicht eine übertriebene Bedeutung gibt.

„Borderline – die andere Art zu fühlen“ ist ein unbedingt empfehlenswertes Buch. Verständlich geschrieben, aufklärend, erhellend, mit vielen Beispielen, Übungen und Anregungen. Und vor allem: die Autorinnen verstehen, Mut zu machen: „… finden wir viele ermutigende und positive Eigenschaften, die Fähigkeit zur Leidenschaft, Offenheit, ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, ein gutes Gespür für zwischenmenschliche und emotionale Prozesse machen den Borderline-Menschen zu einem Partner, der facettenreich ist und den man nicht missen möchte

Von Hans Durrer

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Borderline die andere Art zu fühlen

Borderline die andere Art zu fühlen

Es gibt Bücher, bei denen merkt man schon bei den ersten paar Sätzen („Bei der Recherche im Internet zum Thema Borderline und Beziehung musste ich mit Entsetzen feststellen, wie viele Artikel, Ratgeber und Chat-Rooms die Menschen, die mit dieser Diagnose leben müssen, diskriminieren und völlig realitätsfremd darstellen …. Ratschläge wie Finger weg, bloß nicht auf solche Menschen einlassen oder gar verlassen Sie einen Borderliner nie ohne Polizeischutz, haben mich motiviert, Die Erfahrungen einerseits und den wissenschaftlichen Hintergrund andererseits in einem Buch zusammenzufassen.“), dass man sie mögen wird – und auch sofort weiterempfehlen will. „Borderline – die andere Art zu fühlen“ von Alice und Martina Sendera ist so ein Buch (Springer Wien NewYork).

So recht eigentlich schon des ‚wertfreien‘ Titels wegen. Und auch des schön blühenden Kaktus auf dem Umschlag wegen: „Der Kaktus symbolisiert das charakteristische Verhalten von Abwehrbereitschaft und Angst durch andere verletzt und enttäuscht zu werden, die Blüte die Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit, Schönheit und Liebe, aber auch die Anziehungskraft, die Borderline-Menschen oft auf andere ausüben.“ Wie Sonja K. Sutor so treffend schreibt: „… vielleicht können Sie dem Kaktus zeigen, dass er auf seine Stacheln verzichten kann, wenn Sie bei ihm sind. Vielleicht können Sie selbst lernen, die Stacheln schon im Vorhinein zu sehen und aufzupassen, sich nicht zu verletzen …“.

Doch was ist eigentlich Borderline? In erster Linie eine Emotionsregulations-Störung. Borderliner leiden unter extremen Spannungsgefühlen; ihre emotionale Sensitivität ist angeboren, doch trägt das soziale Umfeld entscheidend zur Borderline-Störung bei.

Verschiedene Konzepte zur Borderline-Pathologie werden in diesem Werk vorgestellt. Besonders eingeleuchtet hat mir das Modell von Marsha Linehan: Borderliner haben häufig als Kinder traumatische Erfahrungen gemacht, auf ihre Gefühlsäusserungen ist nicht angemessen reagiert worden, weswegen diese Kinder nicht gelernt haben, eigene Erfahrungen und Gefühle adäquat zuzuordnen und keine effektive Emotionsregulationsfähigkeit entwickeln. Das zeigt sich etwa in unangemessenen, starken Wutausbrüchen, Impulsivität, affektiver Instabilität, Hochstress, Selbstverletzung oder einem „Muster von instabilen und intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen, das sich durch einen Wechsel zwischen extremer Idealisierung und Abwertung auszeichnet.“

Als Borderline-Grundgefühle gelten Wut (Otto Kernberg), Scham und Schuld (Marsha Linehan), die Borderline-Angst (Sven-Olaf Hoffmann) und die Leere. Diese Gefühle sind nicht nur rascher und intensiver vorhanden als bei Normalos, sie entziehen sich – im Hochstress und bei großer Nähe – auch der kognitiven Kontrolle. „Viele Übungen aus dem Skills-Training zielen darauf ab, neue Wege zu trainieren, um diesem Kreislauf zu entkommen. Das heißt auch im neurobiologischen Sinn, dass das Bahnen neuer Wege möglich ist, die bereits erfolgten neuronalen Bahnungen und Inhalte jedoch löschungsresistent sind …“.

Ist Borderline heilbar? Nach Auffassung von Alice und Martina Sendera sind „die typischen Verhaltensweisen und Reaktionen therapierbar und veränderbar“, doch wird „eine gewisse emotionale Vulnerabilität“ wohl lebenslang bestehen bleiben. Steuern können Borderlines „durch das Erlernen von bewertungsfreiem Wahrnehmen, Beschreiben und Erkennen von Primärgefühlen und der Verinnerlichung des Leitsatzes ‚Ich bin nicht mein Gefühl‘.“ Ich finde diesen Leitsatz wunderbar hilfreich – und nicht nur für Borderliner – , doch wie bewertungsfreies Wahrnehmen (ein derart hochgestecktes Ziel lädt geradezu zum Scheitern ein) gehen soll, ist mir schleierhaft. So recht eigentlich bewertet der Mensch doch immer, bewusst und unbewusst, und ich kann daran auch gar nichts Problematisches erkennen – sofern man dieser Wertung nicht eine übertriebene Bedeutung gibt.

„Borderline – die andere Art zu fühlen“ ist ein unbedingt empfehlenswertes Buch. Verständlich geschrieben, aufklärend, erhellend, mit vielen Beispielen, Übungen und Anregungen. Und vor allem: die Autorinnen verstehen, Mut zu machen: „… finden wir viele ermutigende und positive Eigenschaften, die Fähigkeit zur Leidenschaft, Offenheit, ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, ein gutes Gespür für zwischenmenschliche und emotionale Prozesse machen den Borderline-Menschen zu einem Partner, der facettenreich ist und den man nicht missen möchte

Von Hans Durrer

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.